Du fehlst

Wenn ich morgens aufmache, ist es so still. Das Radio schweigt, niemand blättert in der Zeitung. Es duftet weder nach Kaffee noch nach frischen Brötchen. Es ist ruhig. Ich bin alleine. Nur Tintin sitzt neben meinem Bett und schaut mich erwartungsvoll an. Welch ein Glück, dass es ihn gibt, denke ich jeden Morgen. Mein toller, wunderbarer, total verrückter Tintin. Ganz alleine bin ich also doch nicht.

Aber Du bist gegangen, für immer. Vor einem Jahr.

Warum ich das hier auf meinem Fotoblog schreibe? Was hat meine Trauer über meinen verstorbenen Mann mit meinen Fotos zu tun? Sehr wenig, und doch sehr viel. Ich habe den Blog im Juli 2017 gestartet. Endlich wollte ich mit meinen Fotos hinaus in die Welt und sie nicht nur in geschlossenen Fotogruppen zeigen.

Ich war guten Mutes. Mein Mann war zwar seit Anfang Juni krank, aber er schien auf dem Weg der Besserung zu sein. Eine hartnäckige Magenverstimmung, nicht mehr … Aber es kam alles anders, und ich hatte keine Chance, eine Blogger-Routine aufzubauen und zu entwickeln. Ende August 2017 war klar, dass es keine Magenverstimmung sondern Krebs war. Und dass es nun sehr schnell gehen würde.

Am 1. September 2017 bist du kurz nach 19 Uhr von uns gegangen. Leise und still. Du bist eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Hier, bei mir, in unserer Wohnung, die du genauso geliebt hast, wie ich sie heute immer noch liebe. Umgeben von den Menschen, die dich liebten und unseren Hunden. Dank einem wunderbaren Team von Krankenschwestern und Ärzten war es möglich, dir diesen letzten Wunsch zu erfüllen.

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Ich war plötzlich allein. Witwe. Dabei hatten wir noch so viele gemeinsame Pläne. Ich hatte dich verloren – und eine Zukunft, von der ich bis zu deinem Todestag ziemlich genaue Vorstellungen gehabt hatte.

So wurde der Blog vollkommen ungeplant eine Art Trauerbuch, ein bebildertes Tagebuch eines Trauerjahrs.

Das Fotografieren wurde in den ersten Wochen und Monateen zur Therapie. Die Trauer war zeitweise unerträglich. Es gab nur eines: Hinausgehen, atmen, sich finden, die Welt betrachten, festhalten, weinen, aber auch Kraft sammeln für eine Zukunft, die ich nun irgendwie ohne dich gestalten musste. Mit der Kamera in der Hand fiel mir dies alles um einiges leichter.

Immer wieder fahre ich zu „deinem“ Baum. Denn die Urne mit deiner Asche wurde in einem Ruheforst beigesetzt. Vom Baum aus hat man einen weiten Blick über den Hunsrück – und ich weiß, genau dieser Baum, diese Eiche, hätte dir gefallen. Wahrscheinlich hättest du dich auch darüber gefreut, dass du von sehr vielen alten Seelen umgeben bis. Ausgrabungen haben nämlich gezeigt, dass schon die Kelten und die Römer ihre Toten hier beigesetzt haben.

Manchmal, wenn ich an all den Bäumen vorbei gehe, denke ich, ich könnte sie spüren – all diese Seelen, deren Körper hier ihre letzte Ruhe fanden.

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Viele der Fotos, die ich in den ersten Monaten nach deinem Tod machte, waren auffallend düster.

Ein Foto aus dieser Zeit bedeutet mir besonders viel

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Als ich es zum ersten Mal groß auf dem Monitor sah, war ich perplex – und sogar etwas glücklich. Welch ein Bild! Ich hab lange nicht verstanden, warum mich genau dieses Foto so faszinierte. Bis ein Fotograf es kommentierte und dazu schrieb, dass das Licht ja direkt auf die Kirche fällt, also auf das Symbol für Hoffnung und Leben. Unabhängig vom Glauben, würde eine Kirche immer etwas beruhigendes ausstrahlen. Der das Bild verlassende Hund symbolisiere außerdem, dass es weitergeht.

Das Foto ist also wie eine Botschaft aus dem Jenseits. Schau, Ingrid – alles ist gut, und das Leben geht weiter!

Ja, es ist weiter gegangen.

Aber du fehlst so sehr.

Jeden Tag und jede Minute.

Im Januar musste ich mich dann auch noch von Coupine verabschieden, unserer fröhlichen kleinen Hündin, die du so geliebt hast. Aber eine angeborene Krankheit machte ihr seit Jahren das Gehen schwer, und nach Weihnachten konnte sie sich nicht mehr auf ihren Beinen halten. Ich musste sie gehen lassen, genau wie dich …

Ich weiß noch, wie ich da saß und darüber nachdachte, was du in dieser Situation wohl machen würdest. Wärst du damit einverstanden, dass ich sie gehen lasse? Leider musste ich die Entscheidung alleine treffen, aber mehrere Tierärzte und gute Freunde waren der gleichen Ansicht. Ein Hund, der bei jedem Schritt umfällt und nicht geheilt werden kann – sie nicht zu erlösen, wäre der reinste Egoismus gewesen.

Heute vor einem Jahr waren wir noch Vier – Du, ich, Coupine, Tintin. Nun gibt es nur noch Tintin und mich.

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Mit Coupine und Tintin vor deinem Baum

 

Coupine ist jetzt bei dir. Und ich bin mir sicher, dass ihr oben im Himmel oder auf einer Wolke gemeinsam viel Blödsinn macht.

Irgendwann im Frühsommer veränderte sich die Trauer. Ich stoppte mit dem ständigen Fotografieren und konzentrierte mich wieder mehr auf mein reales Leben, auf den Beruf, auf die Wohnung und alles andere. Aus einem wunderbaren Buch, das mir sehr geholfen hat („Das erste Trauerjahr“ von Eva Tehorst) habe ich auch erfahren, dass vieles kurz nach einem Todesfall recht normal ist. Manische Geschäftigkeit, immer in Bewegung sein, immer etwas tun müssen – diese Stimmung kann plötzlich umschlagen und eine lähmende Unfähigkeit, auch nur irgendetwas zu unternehmen, macht sich breit. Jeder reagiert anders, bei dem einen überwiegt das eine, beim anderen das andere. Ich fühlte mich jedenfalls nach einem extrem aktiven Herbst und Winter ab dem Frühjahr ziemlich gelähmt. Ich hoffe, dass sich alles irgendwie bald wieder einpendelt und ein „normaler“ Zustand entsteht, was immer das auch sein mag.

Es ist dein erster Todestag, und ein Jahr ohne dich geht zu Ende. Es ist das erste Jahr von allen anderen, die noch kommen werden.

Du bist unvergessen, auch wenn ich inzwischen wieder öfters lache und ich wieder neuen und wohltuenden Optimismus fühle. Es gibt noch eine Zukunft. Sie wird ohne dich sein und anders als gedacht. Aber es gibt sie.

Danke für die wunderschönen Jahre, die ich mit dir verbringen durfte.

Und auch Danke an alle die lieben Menschen, die mich durch dieses Jahr begleitet und mich unterstützt haben.

schneewald (1 von 1)

Der Ruheforst an einem Wintertag

Und Danke auch an Tintin – der Gutelaune-Macher!

tintinblumen3 (1 von 1)

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